Vor 50 Jahren starben bei einem schweren Eisenbahnunglück südlich von Trebbin fast hundert sowjetische Soldaten 

01.03.1962

 

mit freundlicher Genehmigung des Autor Klaus Stark und des Verlages Märkische Allgemeine

 

Auszug Streckekarte Rbd-Berlin 1968

Streckendaten und Bilder

 

Bahnstrecke von Luckenwalde nach Trebbin.

Kurz vor dem Waldrand rechts stieß der Militärtransport mit den entgegenkommenden D-Zug zusammen.

Foto: Klaus Stark

 

POTSDAM - Keiner der Augenzeugen wird diese Nacht jemals vergessen. Die Luft war erfüllt vom Schreien und Stöhnen der vielen Verletzten. Die toten Russen lagen nebeneinander in einer langen Reihe an den Schienen – „eine Strecke wie Hasen nach der Jagd“, sagt der Jüterboger Ortschronist Henrik Schulze Jahrzehnte später. Es waren fast hundert Leichen. Heute erinnert vor Ort nichts mehr an die Katastrophe. „Für uns sind alle diese Sowjetsoldaten namenlos gestorben“, so Schulzes bitteres Resümee.

Vor genau 50 Jahren, am 1. März 1962 wenige Minuten vor 19 Uhr, kam es südlich von Trebbin (Teltow-Fläming) zu einem der größten Unfälle der deutschen Eisenbahngeschichte. Ein sowjetischer Militärtransport kollidierte dort mit dem planmäßigen D-Zug von Berlin nach Leipzig. Die grausige Bilanz: ein toter Reisender, an die hundert tote Soldaten. Die Schwere des Unglücks wurde in den DDR-Medien damals komplett verschwiegen. So ist in der „Märkischen Volksstimme“ zwei Tage später lediglich von dem deutschen Toten und mehreren Verletzten die Rede.

Es ist das Verdienst des Jüterboger Ortschronisten Henrik Schulze, die Ereignisse am Bohldamm zwischen Trebbin und Kliestow der Vergessenheit entrissen zu haben. Jahrelang sammelte er die Berichte von Augenzeugen. Auch MAZ-Leser Rainer Pannier aus Blankenfelde (Teltow-Fläming) trug zur Aufklärung bei. So lässt sich zumindest der äußere Ablauf des Unglücks inzwischen ganz gut rekonstruieren.

Ein sowjetisches Panzerbataillon war offenbar auf dem Übungsplatz bei Jüterbog zum Scharfschießen gewesen. Am Abend des 1. März rollt es per Bahn zurück in Richtung Berlin. Erst 15 Plattenwagen, auf denen sich jeweils zwei Panzer – wahrscheinlich des damals eben erst eingeführten Typs T-55 – mit gekreuzten Kanonen gegenüberstehen. Es folgen sieben bis acht gedeckte Güterwagen, von denen jeder an die 30 bis 50 Soldaten beherbergt, und weitere Waggons mit Panzern und vielen Lastwagen.

Doch an einem der Panzer löst sich unbemerkt die Arretierung der Kanone. „Wahrscheinlich war es der Panzer, der in Fahrtrichtung direkt vor den gedeckten Güterwagen stand“, berichtet Schulze. Das Rohr schert nach links aus – genau in dem Moment, als auf dem Nachbargleis der Schnellzug Berlin – Leipzig entgegenkommt. „Zunächst schlägt die Kanone gegen die Dampflok und reißt die Wasserpumpe ab“, so Schulze. Dann federt sie zurück, trifft zwei, drei Wagen später aber erneut auf den entgegenkommenden Zug und bohrt sich in die Fensterfront.

Einer der Reisenden wird von dem Rohr erfasst und über den Militärtransport auf den angrenzenden Acker geschleudert, wo er tot liegenbleibt. Dass es in dem D-Zug nicht wesentlich mehr Opfer gab, lag ausschließlich daran, dass sich auf der dem Transport zugewandten Seite der Gang der Waggons und nicht die Sitzreihe befand.

Chronist Schulze hat herausgefunden, wer der tödlich verletzte Reisende war: der damals 38-jährige Siegfried Morgenstern aus Leipzig. Der Hobbyhistoriker vermutet, dass dieser als starker Raucher den Gang aufsuchte, um Mitreisende nicht durch den Qualm zu belästigen: „Da erwischte ihn das Kanonenrohr.“ Inzwischen hat sich bei ihm auch der Sohn Morgensterns gemeldet, der sich noch daran erinnern kann, wie die Volkspolizei in der Tür stand und seiner Mutter die Todesnachricht brachte. Damals war er ein Schulkind.

Noch viel schlimmer als die Passagiere des D-Zuges traf es aber die Insassen des Truppentransports selbst. Durch den Aufprall rutscht der Panzer nach hinten auf die Kupplung, durchbricht sie und stürzt auf das Gleisbett – worauf der gesamte restliche Zug mit ihm kollidiert und sich mit ungeheuerer Wucht über dem Stahlkoloss auftürmt. „Die Güterwagen mit den Soldaten schoben sich zu einem Bretterhaufen zusammen“, berichtet Schulze von seinen Recherchen. Als die Freiwillige Feuerwehr Trebbin kurz darauf an der Unglücksstelle ankommt, steckt sie ihre Leitern zu einer einzigen Leiter von insgesamt 15 Metern Länge zusammen. „Damit erreichten sie nicht einmal die Spitze des Trümmerhaufens.“

Fatalerweise wurden die im Volksmund „Viehwaggons“ genannten Güterwagen durch den Aufprall so zerquetscht, dass die Bretter der Wände zu gefährlichen Splittern zerbarsten. Zeugen berichten von grauenhaften Verletzungen – so soll einem Soldaten ein langer Holzsplitter durch den Hals eingedrungen und oben wieder aus dem Schädel herausgefahren sein.

In dem furchtbaren Durcheinander dieser Nacht gab es nur einen kleinen Lichtblick: „Der Katastrophenschutz funktionierte hervorragend. Wenn auch auf einem bescheidenen Niveau, damals hatte man ja noch keine Handys“, erzählt Schulze. Sofort nach den Unglück ruft der zuständige Fahrdienstleiter den Dienstvorsteher des Bahnhofs Trebbin, Reinhold Pohl, zu Hause an. Der fährt mit seinem Dienstfahrrad zur Unfallstelle. „Da sehe ich schon die Lok stehen und die Güterwaggons, übereinander getürmt“, so erinnert sich der heute 83-Jährige. Ein Russe ruft „Stoi!“ – aber Pohl, der seine Uniform als Reichsbahner trägt, kann ihn beruhigen. Der Trebbiner Bahnhofschef radelt ein paar Meter weiter zum Schrankenposten 39 bei der heutigen Straße An der Ziegelei, wo damals ein schienengleicher Bahnübergang war, und schlägt Alarm. In Trebbin und in umliegenden Orten heulen die Sirenen.

Viele Einwohner von Trebbin und Luckenwalde erinnern sich heute noch an das schreckliche Geschehen. Und viele haben dem Jüterboger Ortschronisten von ihren Erlebnissen berichtet. Erich

Maetz, damals Vorsitzender der Trebbiner Gärtnergenossenschaft, trifft auf dem Heimweg von einer Beratung in der Stadt auf verletzte Sowjetsoldaten. Schnell lädt er sie in seinen achtsitzigen Kleinbus und fährt sie ins Luckenwalder Krankenhaus.

Der Lehrer Herbert Bauer berichtet von einer gespenstischen Trümmerlandschaft, von russischen Kommandos, dem Brummen von Motoren und den Schmerzensschreien der Verwundeten. Überlebende Soldaten haben inzwischen Feuer angezündet, um wenigstens etwas Licht zu haben und um sich in der kalten Nachtluft daran zu wärmen. Günter Schulz aus Trebbin wird von der Volkspolizei verpflichtet, mit seinem Auto Verletzte in die Klinik zu fahren. Sogar ein Taxiunternehmer aus Jüterbog wird engagiert, um von der Defa in Potsdam-Babelsberg Scheinwerfer zur Ausleuchtung der nächtlichen Unfallstelle zu holen.

Mittlerweile treffen immer mehr sowjetische Militärs ein. Ein Mitglied der deutschen Transportpolizei erinnert sich später, er habe nie wieder „ so viele Generäle auf einem Haufen gesehen“. Und während Feuerwehrleute, Ärzte, zum nächtlichen Dienst einberufene Schwesternschülerinnen im Luckenwalder Krankenhaus und einfache Bürger noch so gut helfen, wie sie können, beginnt die Vertuschung. Bahnhofsvorstand Pohl erhält vom Reichsbahnamt die Anweisung, keinesfalls das übliche Unfallmeldeblatt auszufüllen: „Es durfte nichts aufgeschrieben werden, keine Notizen, nichts. Und über die Ursache durfte schon gar nicht gesprochen werden“, berichtet er. Einem Angehörigen der Kriminalpolizei wird damals gesagt: „Schreib ins Protokoll, was du willst, die sowjetischen Freunde kommen jedenfalls nicht darin vor.“

Noch schlimmer aber findet Ortschronist Schulze, dass die sowjetische Armee ihre Verletzten am nächsten Morgen noch vor Sonnenaufgang allesamt wieder aus den deutschen Kliniken abholte und auf offenen Lastwagen mit unbekanntem Ziel abtransportierte – egal ob sie überhaupt transportfähig oder frisch operiert waren. „Das war an Grausamkeit kaum zu überbieten“, sagt er.

Die äußeren Folgen des Unfalls waren schnell beseitigt. Am 2. März wurden die Reste des Panzerzugs nach Trebbin, der D-Zug nach Luckenwalde gezogen, wie der damalige Dienstvorsteher des Bahnhofs Großbeeren (Teltow-Fläming), Rainer Pannier, der MAZ berichtete: „Ein zerstörter D-Zug-Wagen lag noch auf dem Acker.“ Dann wurden die Trümmer beseitigt und die Gleise in Ordnung gebracht. Zu Beginn der Leipziger Frühjahrsmesse wenige Tage später rollten die Züge schon wieder reibungslos.

Die Erinnerungen an das Unglück aber plagen manche heute noch. So fragt sich Henrik Schulze, wo wohl die toten sowjetischen Soldaten geblieben sind. Die Überführung von Verstorbenen mit verlöteten Zinksärgen in die Heimat war erst in den 1970er Jahren üblich. Deshalb fürchtet er, dass die Opfer irgendwo in einer deutschen Garnison „in aller Stille verscharrt worden sind. Vielleicht werden wir beim Bau eines Gewerbegebiets einmal auf ein Massengrab stoßen.“ Und Reinhold Pohl, der den Trebbiner Bahnhof 1958 im Alter von 29 Jahren übernommen hatte, sagt: „Ich war ja damals noch so jung. Den Unfall werde ich niemals vergessen.“ (Von Klaus Stark)


Ortschronist im Ehrenamt:

Henrik Schulze hatte gerade einen Bericht über das Unglück in Forst Zinna (Teltow-Fläming) verfasst, wo im Januar 1988 ein Panzer mit einem Reisezug zusammenstieß, da bekam er einen Anruf von einem Leser. „Der sagte zu mir, in Trebbin sei 1962 etwas noch viel Schlimmeres passiert“, berichtet er.

Nirgendwo gab es darüber Unterlagen. Bei einem Heimatgeschichtlichen Stammtisch meldeten sich erste Zeitzeugen, Schulze fragte bei Ex-Eisenbahnern nach, bei Mitgliedern der Transportpolizei. „Irgendwann war die Sache dann rund“, sagt der Hobbyhistoriker.

Der heute 61-Jährige stammt aus Halbe (Dahme-Spreewald), das dortige Schlachtfeld des Zweiten Weltkriegs, erzählt er, „war mein Kinderspielplatz“. Mitte der 1970er Jahre hat es ihn nach Jüterbog (Teltow-Fläming) verschlagen, wo er 1984 offiziell als Ortschronist eingestellt wurde – gegen monatlich 100 Mark und eine geringe Aufwandsentschädigung.

Seit der Wende nimmt Schulze diese Aufgabe ehrenamtlich wahr. „Für mich ist das ein Hobby, wie andere zum Fußballspielen gehen“, sagt er bescheiden. Der Historiker hat mehrere Bücher zu militärgeschichtlichen Themen verfasst und gibt die „Barbara-Meldung“ heraus. kra

 

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